Künstlerin - Bildhauerin

"Kann man in Halle Neustadt küssen - oder - Das ewige Schäferstündchen" Wettbewerb: Schattenspendende Skulpturen im Zentrum Halle - Neustadt

Added on by jenny rempel.

Abb.: Entwurfsplakat zum Wettbewerb: Schattenspendende Skulpturen im Zentrum Halle - Neustadt , 2023

„Kann man in Halle Neustadt küssen? - oder: Das ewige Schäferstündchen“

Inhaltliche Beschreibung

„Jede Stadt, die natürlich gewachsen ist, hat ihren eigenen Duft, ihre eigene Farbe, und ihre Architektur besitzt einen unverwechselbaren Zauber.“ , schreibt Brigitte Reimann 1963 in ihr Tagebuch. Doch wie steht es um den Zauber der Stadt der Zukunft, der größten Vorzeigeplanstadt der DDR? „Kann man in Halle-Neustadt küssen?“ fragt nach Reimann ein Artikel in der Zeitung Die Welt, und bezieht sich damit auf Reimanns Frage, die sie 1963 vor dem Zentralkomitee stellte: „Kann man in Hoyerswerda küssen?“. Damals löste sie mit dieser hintergründigen, banal erscheinenden Frage einen Sturm von Empörung, aber auch Zustimmung aus und traf mit großer Treffsicherheit genau den brennenden Streitpunkt, den die Architekturwelt der Nachkriegsjahre führte. Reimann stellte eigentlich die Frage nach der Möglichkeit von Innigkeit im Konstruierten.

„{Ich versuche} zu erfahren, wieweit die Architektur einer Stadt das Lebensgefühl ihrer Bewohner zu prägen vermag, und mir scheint, sie trägt in gleichem maße zur Seelenbildung bei wie Literatur und Malerei, Musik, Philosophie und Automation.“

Betrachtet man den Platz, der als Zentrum von Halle Neustadt bezeichnet wird aus der Vogelperspektive, fällt auf, dass er fast exakt im Fadenkreuz der Himmelsrichtungen ausgerichtet daliegt. Mitten auf dem Platz und durch das leichte Gefälle scheint die meist unbespielte Bühne, wie eine regungslose Kompassrose in einem Sturmauge in Tristesse zu versinken. Drei Winde wehen ungehindert durch die architektonischen Einflugschneisen auf den Platz und verwirbeln sich auf höhe des zentralen Podestes. Nur der Westwind wird von dem riegelförmigen Einkaufszentrum aufgehalten. Beschäftigt man sich in die Mythologie des Windes kann man die Windrichtungen in Verbindung mit den vier Temperamenten oder Gemütszuständen des Menschen setzen. Dabei ist der Nordwind ist der Melancholiker (pessimistisch, traurig, ängstlich), der Ostwind der Choleriker (heißblütig, energisch, optimistisch), der Südwind der Phlegmatiker (schwerfällig, träge, nachdenklich) und der Westwind der Sanguiniker (heiter, lebhaft, sorglos).

„In der transzendenten Mitte, im Auge des geistigen Sturmes, findet das ewige Schäferstündchen statt.“

Die Hauptblickachsen und Passantenzuflüsse des Platzes kommen vor allem von Osten her (aus Richtung Altstadt) und aus dem Süden. Dann gibt es noch die erweiterte nördliche Passage, wobei der S-Bahntunnel unterirdisch die Nord Südachse vertieft. Betrachtet man den Platz vor dem Einkaufszentrum gewinnt man den Eindruck, dass er für die Anwohner einzig nur dem Zweck des Überquerens zum Konsumtempel dient. Die ungenutzte Bühne verstärkt diesen Eindruck. Das Kunstwerk soll die Möglichkeit schaffen die Bühne und ihren Umraum auch als geistiges Zentrum des Platzes zu betonen und zu beschatten. „Die Zukunft läuft in Gummistiefeln“ heisst es bei dem hallenser Dichter Jan Koplowitz in einer Ode auf die Entstehung Halle Neustadts. Großbaustellen sind alles andere als sauber, besonders wenn es regnet und die Erde über den noch nicht versiegelten Mutterboden aufschwemmt. Wo damals die Zukunft in Gummistiefeln einzog, blickt heute ein graues Gestern aus zahllosen leeren Fenstern. Das Kunstwerk „Das ewige Schäferstündchen“ trägt inhaltlich und äußerlich zu einer Reaktivierung und Neu-Identifikation des geistigen Zentrums Halle Neustadts bei.

„Ja, das ist leicht, beschwingt in / Dederon / Auf Dachterrassen tanzend sich / beflügeln, / um Mund an Mund – manch Dichter / schreibt davon – / den zärtlichsten der Schwüre zu besiegeln.“ (Koplowitz: „Die Zukunft läuft in Gummistiefeln“)

Äussere Beschreibung

Regenschirme schaffen kleine tragbare Schutzräume. Sie bieten ihrem Träger Schutz vor Regen, spenden Schatten, sind über die Hand unmittelbar mit dem Menschen verknüpft und schaffen ihm ein wenig Intimsphäre unter dem großem Himmel, - auch für Zärtlichkeiten. Von welcher Titanen-Hand haben sich die Schirme losgerissen und fliegen nun herrenlos über den Platz? Die drei Winde, die auf den Platz strömen, werden in comikhafter, abstrahierter Form durch eine Gruppierung von gebogenen, pulverbeschichteten Stahlrohren dargestellt. Die Rohre verlaufen in unterschiedlichen Höhen und Durchmessern aus der jeweiligen Himmelsrichtung kommend auf das Podest zu und jeder Wind trägt je einen vergrößerten, farbigen Regenschirm in den Luftraum der Platzmitte. Die „Windlinien“ werden untereinander durch Stahltstifte partiell miteinander verbunden und die jeweilige Höhe ist durch einen bzw. zwei Stahlpfeiler im Fundament verankert.

Die Plastiken werden weitestgehend naturalistisch, nach ihren kleinen Vorbildern den Regenschirmen, jedoch überdimensionial mit Durchmessern von ca 600-700cm aus Stahlrohr Stahlblech mit teils gelaserten Musterdurchbrüchen - umgesetzt. Die Plastiken sollen den Eindruck des freien Fluges erwecken und sind dem entsprechend unterschiedlich auf dem Trägergestell ausgerichtet, mal umgedreht auf dem Kopf hängend - bald schräg liegend, wobei die Sonneneinstrahlung für den gewünschten schattenspendenden Effekt auf der Bühne und deren Umraum berücksichtigt wird. Die Griffe der Schirme sind aus Holz und Stahl gefertigt. Der Mittelteil aus Stahlrohr und Schirm sind durch Schweißnähte fest miteinander verbunden. Die Kuppelformen werden mit den schirmtypischen Rippen und Querverstrebungen verstärkt. Die gebogenen Bleche der „Schirmbespannung“ sind aussen und innen mit Farben und Musterdurchbrüchen gestaltet und setzen farbige Akzente auf dem Platz. Das Design und die pastellene Farbigkeit der Plastiken orientieren sich an der Mode zur Zeit der Gründung der neuen Stadt, also an den 1960er/-70er Jahre Schirmmodellen.